Zu nah

Die Ankunft der Sandläuferin

Pieps, erschöpft von der Reise und den vielen neuen Eindrücken des Meeres, sank im Sand in einen tiefen Schlaf. Er hatte sich direkt am Rand des Lagerplatzes eingerollt, wo die Menschen Kisten und Fässer abgeladen hatten.
Zur selben Zeit kämpfte sich Mina, die Sandläuferin, durch die spärlichen Küstenbüsche. Ramiro hatte sie geschickt, weil Pieps den schwierigen Weg durch die Schlucht vermutlich nicht alleine bewältigen würde. Die ganze Nacht hatte Mina nach ihm gesucht, denn Ramiro hatte Sorge, der kleine Abenteurer könne auf sich gestellt in Gefahr geraten.
Mina war erschöpft von der langen Nacht. Die Sonne war gerade aufgegangen, und alles um sie wirkte still – nur der weiche Wind im Dünengras bewegte sich.
Am Rand des Lagers entdeckte sie den Jungen, der auf einer Kiste schlief – und direkt neben ihm den großen, grauen Kater.
Die Katze war wachsam und gefährlich. Sie schlief zwar gerade, aber sie war viel zu nah an Pieps, und Mina wusste, dass jeder Moment, den Pieps hier verbringen würde, riskant war.

Der Weckruf

Mina schlich sich so nah heran, wie sie es wagte. Der Kater durfte nicht aufwachen.
Dann flüsterte sie heftig:
„Pieps…? Pieps, wach auf! Sofort!“
Mina hatte ihn noch nie zuvor getroffen, doch die Panik riss ihr die Worte förmlich aus der Kehle.
Pieps zuckte zusammen, seine kleinen Beine zappelten verwirrt.
„Was… was ist denn los? Sind die Schiffe—?“
„Keine Fragen!“, fauchte Mina mit kaum hörbarer Stimme. „Der Kater wird gleich wach. Du darfst hier nicht schlafen! Aufstehen – jetzt!“
Sie packte ihn am Ärmel seines kleinen Jacketts und zog ihn mit sich. Sie rannten nicht, aber sie bewegten sich schnell und geduckt durch den weichen Sand – weg von den Kisten, weg von der Gefahr.
Erst im Schutz des hohen Dünengrases ließ Mina ihn los. Sie presste sich in eine sandige Mulde unter knorrigen Wurzeln. Von hier aus konnten sie den Lagerplatz überblicken, ohne selbst gesehen zu werden.
„Schau dorthin.“ Ihre Stimme zitterte. „Der Junge und sein Kater. Dieser Kater ist ein Jäger, Pieps. Ein gefährlicher Jäger. Wir bleiben hier, bis die Sonne untergeht. Versprich mir, dass du hierbleibst. Egal, was passiert.“
Pieps nickte nur.
„Ich verspreche es, Mina“, sagte er – doch in seinem Bauch lag ein Knoten, der sich nicht löste. Die Kisten, die Gerüche, die Neugier… sie zogen ihn magisch an.
Mina hingegen konnte nicht länger wach bleiben. Die Müdigkeit übermannte sie, und wenig später schlief sie tief und fest.

Zu nah

Pieps hockte im Versteck. Der Junge… die Kisten… die seltsamen Dinge der Menschen…
So gern hätte er alles aus der Nähe gesehen.
Aber er hatte es Mina doch versprochen.
Und denoch…
Mina schlief. Sie würde es nie erfahren.
In diesem Moment war Pieps’ Entscheidung gefallen.
Jetzt oder nie.
Langsam kroch er aus dem Versteck, so vorsichtig, wie er nur konnte. Sein Herz klopfte schneller und schneller, doch die Neugier trieb ihn voran. Zentimeter für Zentimeter schlich er sich den Kisten entgegen.
Der Junge und der Kater schliefen noch auf einer Kiste. So nah. So unglaublich nah.

Die Jagd beginnt

Mit einem plötzlichen Rascheln im Gras änderte sich alles.
Pieps zuckte zusammen und blickte instinktiv zur der Kisten – doch dort lag der Kater nicht mehr.
Bevor er das Geräusch deuten konnte, schoss die graue Katze mit einem scharfen, bedrohlichen Laut aus dem hohen Gras hervor. Lautlos hatte sie sich herangepirscht und Pieps’ Missachtung der Regeln beobachtet.
Sie landete direkt vor ihm.

Ein Schlag mit der rechten Pfote – Pieps erstarrte. Nicht vor Schmerz, aber von Angst der im in dem Moment überwältigte.
Ein zweiter Schlag, mit der linken – spielerisch, wie mit einem Katzenspielzeug.
Als ob die Katze mit ihm spielen wollte
Pieps dachte nicht nach. Er riss sich los und rannte. Doch der Kater war schnell. Viel zu schnell.

Immer wieder versperrte er Pieps den Weg, sprang auf Kisten, lauerte, schlug nach ihm. Pieps huschte zwischen Holz und Schatten hin und her, doch überall tauchte die graue Pfote wieder auf.
Schließlich fand er eine schmale Lücke zwischen zwei Kisten, kroch hinein und duckte sich. Eine Falle – aber eine, die ihm einen Moment zum Nachdenken verschaffte.

Der Kater fauchte und versuchte, ihn herauszuangeln.
Pieps wusste: Lange würde er hier nicht sicher sein.

Als der Kater kurz ruhiger wurde, fasste Pieps Mut.


Jetzt oder nie.
Er schoss aus seinem Versteck hervor. Er rannte, bog ab, rannte weiter.
Jeder Richtungswechsel gab ihm ein kleines bisschen Vorsprung, aber die Katze holte diesen Vorsprung mit einem einzigen Sprung wieder ein. Immer wieder landeten ihre Pfoten direkt vor ihm im Sand.
Mit der Zeit wurde Pieps langsamer. Viel langsamer. Dann stolperte er – und fiel.

Sofort lag die schwere Pfote des Katers auf seinem Rücken. Die Welt wurde eng, grau, furchteinflößend.
Pieps Gedanken flüchteten zu seiner Mutter, seinen Geschwistern. Erinnerungen, die ihn schwächten, statt ihm Kraft zu geben. Er versuchte zu schreien, doch es kam nur ein leises Wimmern.

Der Jäger der Lüfte

Ein großer Schatten glitt lautlos über den Sand und blieb für einen Augenblick direkt über dem Kater stehen.
Pieps erkannte die Silhouette sofort: den Jäger der Lüfte, den dunklen Vogel, den er schon einmal gesehen hatte.
Der Kater bemerkte die Gefahr allerdings zu spät.
Mit einem durchdringenden Schrei stürzte der Vogel herab. Seine Krallen trafen den Kater mit voller Wucht.

Der Kater brüllte auf, stolperte zur Seite und ließ Pieps frei. Jetzt war der Jäger plötzlich zu Gejagten.
Fauchend drehte sich die Katze um, bereit, den nächsten Angriff abzuwehren.
Der Vogel stieß erneut herab.

Chaos.
Staub.
Gefieder gegen Krallen.


Und mitten darin: Pieps – frei, aber noch längst nicht gerettet.