Hinter dem Gras

Die unerwartete Begegnung

Doch Pieps’ Hoffnung, dass das Kratzen und Zischen aufgegeben hätte, verflog, als die Stille durchbrochen wurde. Es klopfte leise an seine Tür.

„Schläfst du, Pieps?“, flüsterte eine Stimme.

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Im Licht einer kleinen Lampe, die er in der Hand hielt, stand Elias – im Schlafanzug und mit Schlafmütze. Er wirkte beunruhigt, ja fast ein wenig unglücklich, Pieps wecken zu müssen.

„Nein! Ich bin wach geworden. Irgendetwas war am Fenster“, berichtete Pieps atemlos, doch Elias unterbrach ihn kurz.

„Das war kein Albtraum. Jemand will dich unbedingt sehen.“

„Jetzt? Mitten in der Nacht?“, Pieps war überrascht. Wer sollte ihn, fernab all seiner Freunde und Familie, mitten in der Nacht treffen wollen?

„Ja. Zieh dich an und komm vor die Tür. Aber erschrick nicht. Er ist ein Freund. Er wird dir nichts tun… aber du wirst es gleich selbst sehen“, sagte Elias, schloss die Tür wieder und verschwand.

Pieps war überrumpelt und wusste nicht, was er sagen sollte. Doch seine Neugier auf das Unbekannte überwog trotz eines kleinen Anflugs von Angst. Er zog sich rasch an und trat mit einem entschlossenen Schritt vor das Haus.

Draußen standen Elias und Ellara. Sie unterhielten sich flüsternd mit…

„Oh! Was ist das denn?“, Pieps erstarrte vor Schreck.

Ein riesiger Kopf mit zwei Augen und einem so großen Maul, dass es Pieps auf der Stelle hätte verschlucken können.

„Tss, tss, Pieps“, zischte das Wesen ihn an und versuchte, ihn mit einer langen, zweigeteilten Zunge zu erreichen. „Herzlich willkommen!“

„Ich weiß, es ist mitten in der Nacht, aber…“

Pieps war überfordert. Alles ging ihm zu schnell. Erst vor wenigen Stunden hatte er die ersten Schritte im Grasmeer gemacht, neue Freunde gefunden und einen Kampf gegen einen Greifvogel gewonnen. Und nun das: Ein Schlangenwesen, vor dem Azakea ihn gewarnt hatte. Aber anscheinend sind nicht alle Schlangen gefährlich. Endlich wich die anfängliche Schockstarre. Er machte einen Schritt näher, um das Tier genauer zu betrachten.


„Ich bin Eduardo, von den Äskulapnattern“, stellte es sich vor und kam näher. So riesig, wie Pieps es zunächst wahrgenommen hatte, war es nicht, aber immer noch ziemlich lang. Es war das längste Lebewesen, das er je gesehen hatte.

„Lieber Pieps… du musst verschwinden“, sagte Eduardo unvermittelt.

„Verschwinden? Wie meinst du das?“, Pieps war irritiert. Er wollte sich bei Familie Grasgrün ausruhen und erst morgen weiterziehen.

„Du musst sofort verschwinden. Das ganze Grasmeer redet schon über dich und wie du Elias das Leben gerettet hast“, zischte Eduardo weiter. „Nur der Falkenpeter… der ist stinksauer auf dich. Seine Ehre hat stark gelitten. Die Hälfte der Bewohner macht sich schon heute lustig über ihn.“

Wie war das möglich? Es war doch erst vor ein paar Stunden passiert! Anscheinend funktionierte die Stillepost in dieser Gesellschaft wirklich gut.

„Der Falkenpeter wird dich jagen. Er weiß, wo du schläfst… aber seine Würde erlaubt es ihm nicht, den Familienfrieden zu stören. Deshalb wird er auf dich warten, sobald du weiterziehst“, erzählte Eduardo ohne Pause. Mit kurzem Atem, aber leiser Stimme versuchte er, Pieps zu warnen. „Wenn du jetzt gehst, hast du eine Chance, unbemerkt dem Falkenpeter zu entwischen.“

In diesem Moment kam Ellara aus dem Gras. In ihren Händen trug sie ein Päckchen, das in großen Blättern verpackt war.

„Pieps! Warte nicht! Geh, bevor die Sonne das Grasmeer erhellt und das Leben erweckt. Jetzt hast du noch die Chance, dein Ziel unbeschadet zu erreichen.“

So hatte Pieps sich den Abschied nicht vorgestellt. Aber sie hatten alle recht. Die Nacht würde noch ein paar Stunden dauern – genug Zeit, um die Gefahrenzone zu verlassen.

„Liebe Ellara. Lieber Elias… ich danke euch für alles.“

„Pieps! Nicht du sollst danken. Hast du vergessen? Wir schulden dir Dank und werden dich in Erinnerung behalten.“

Pieps zog seine Schuhe an, nahm seinen Hut und Rucksack.

„Eduardo… ich danke auch dir“, drehte sich Pieps zu der Schlange. „Schade, dass wir so wenig Zeit hatten. Vielleicht treffen wir uns irgendwann wieder… dann werden wir uns länger unterhalten können.“

Pieps sprach und spürte, wie ihm zwei kleine Tränen über die Wangen liefen. Er hatte sich bei der Familie Grasgrün so wohlgefühlt und musste sie nun so schnell verlassen, ohne sich von den Kleinen verabschieden zu können.

„Grüßt mir noch die Kleinen!“, sagte er am Ende und lief los, bevor er hinter dem nächsten Grashalm verschwand.

Die Flucht durch die Nacht

Der erste Teil der Flucht war von gespannter Stille geprägt. Jeder Windhauch, jedes Rascheln im Gras ließ Pieps zusammenzucken. Er lief nicht, er schlich – gebückt, um im Schutz der hohen Halme zu bleiben. Die Dunkelheit war sein größter Verbündeter, doch zugleich eine ständige Quelle der Angst. Er musste sich auf sein Gehör verlassen, auf das ferne Rauschen des Windes, um nicht vom Weg abzukommen. Immer wieder glaubte er, das ferne, scharfe Auge des Falkenpeters über sich kreisen zu sehen, aber es war nur die Dunkelheit, die ihm Streiche spielte.

Doch als er sich tiefer in die Nacht wagte, wagte Pieps es, kurz innezuhalten und den Blick nach oben zu richten. Über ihm spannte sich der Himmel in einer unvorstellbaren Tiefe auf – ein Meer aus schwarzem Samt, besprenkelt mit funkelnden Diamanten. Es war ein Augenblick der erhabenen Schönheit, der ihm paradoxerweise Mut und Trost spendete.

Die Stunden verrannen langsam. Die Kühle der Nacht kroch ihm durch die Kleidung, aber die Anspannung hielt ihn wach. Irgendwann wich die tiefste Schwärze einem grauen Morgengrauen. Mit dem ersten schwachen Licht wurde sein Weg sicherer, aber auch gefährlicher, denn jetzt konnte ihn auch der Falke besser sehen.

Der Tag brach langsam an. Stunden waren vergangen, und Pieps marschierte munter weiter. Die Landschaft veränderte sich jedoch nicht wirklich. Immer wieder die gleichen hochstehenden Grashalme, hier und da ein paar Blumen und überall das Gezwitscher von Vögeln. Er hörte sie schon, seit es hell geworden war – mehrere, dutzende verschiedene Zwitscherlaute, als hätten sie Pieps begrüßen wollen. Und trotzdem, trotz dieser friedlichen Momente, trug Pieps die Gefahr, die vom Falkenpeter ausging, im Hinterkopf. Deswegen versuchte Pieps, die Gegend so schnell wie möglich zu verlassen. So weit wie es ging…
„Guten Morgen, Pieps“, hörte Pieps auf einmal eine leise Begrüßung. Die Stimme, die er noch nie gehört hatte, klang, als hätte der Wind selbst mit ihm gesprochen. Hatte er sich verhört? Pieps drehte sich um. „Guten Morgen, Pieps… hier… hier oben“, meldete sich die Stimme wieder. Pieps drehte sich erneut um und schaute ein wenig nach oben…


Es war ein wunderschöner kleiner, blauer Schmetterling, der knapp über einem Grashalm schwebte. Ihre Flügel glitzerten im frühen Sonnenlicht. „Ich bin Fibi“, stellte sie sich vor. „Gute Bekannte der Grasgrüns. Ich war schon gestern Abend da, als du dich ausgeruht hast.“

„Guten Morgen, Fibi“, antwortete Pieps erleichtert. Es tat gut, inmitten der Anspannung ein freundliches Gesicht zu sehen. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

Fibi schwebte näher. „Nein, du bist derjenige, dem geholfen werden muss! Ellara hat sich große Sorgen gemacht, als sie heute Morgen dein leeres Bett sah und wusste, dass du mitten in der Nacht gegangen bist. Sie hat mir zugewinkt – ich bin seit Tagesanbruch auf der Suche nach dir, um nach dem Rechten zu sehen.“

Das warme Gefühl von Zuneigung, das ihn schon kurz berührt hatte, wurde nun stärker. Pieps erzählte ihr kurz von dem Besuch von Eduardo, dem Äskulapnatter.

Fibi lachte leise, ein Geräusch wie das Zusammentreffen von Grashalmen. „Ach, Eduardo! Er ist dramatisch, aber er meint es gut. Er ist einer der Gründe, warum Ellara heute beruhigt ist.“ Sie begleitete Pieps nun im langsamen Schwebeflug, während er zügig weiter marschierte.

„Sie hat mir berichtet, wie tapfer du warst, Pieps. Das ganze Grasmeer redet davon. Und ich habe Neuigkeiten, die dir helfen werden“, flüsterte Fibi. „Der Falkenpeter ist zwar stinksauer, wie Eduardo schon sagte, aber er hat aufgegeben.“

Pieps hielt überrascht inne. „Aufgegeben? Aber wieso?“

„Er hat gehört, dass du verschwunden bist, dass du über Nacht geflohen bist. Seine Ehre erlaubt es ihm nicht, eine so weite und langwierige Suche in dieser offenen Steppe zu beginnen“, erklärte Fibi. „Er betrachtet es als Feigheit deinerseits und meint, ein Feigling sei seiner Jagd nicht würdig. Er ist wieder in seinem Revier. Du bist sicher, Pieps.“

Die Worte trafen Pieps wie ein warmer, entspannender Regen. Ein riesiger Stein fiel ihm vom Herzen. Die permanente Anspannung wich einer tiefen, fast schmerzhaften Erleichterung.

„Trotzdem“, fuhr Fibi fort, während sie ihm den Weg zwischen zwei besonders dichten Grashalmen zeigte, „hast du gut daran getan, die Grenze schnellstmöglich zu erreichen. Der Falkenpeter ist stolz, und sein Groll wird nicht einfach verfliegen.“

Sie begleiteten sich noch eine Weile, während Fibi ihm Geschichten über die Eidechsen und die kleinen Abenteuer im Grasmeer erzählte. Die Landschaft änderte sich merklich. Die Gräser wurden lichter, der Boden steiniger und härter. Die Luft war nun trocken und staubig.

„Hier muss ich dich leider verlassen, Pieps“, sagte Fibi, als die Grashalme endeten. „Ich kann mich im Felsmeer nicht verstecken. Aber jetzt, wo du weißt, dass du nicht mehr gejagt wirst, kannst du deine Reise genissen. Pass auf dich auf!“

Pieps fühlte sich, als würde er einen lieben Freund zurücklassen. „Danke, Fibi. Grüß mir Ellara und Elias und sag ihnen, ich werde sie nie vergessen.“

Mit einem letzten, funkelnden Flügelschlag stieg Fibi in die Höhe und segelte zurück in das grüne Meer, während Pieps, erschöpft, aber nun innerlich ruhig und zentriert, die Grenze erreichte.

Die Schwelle zum Unbekannten

Vor ihm tat sich die Landschaft abrupt auf: eine felsige Einöde. Zuerst nur kleine Steine und ein paar widerstandsfähige Pflanzen, doch dann eine steil aufragende Felsformation, die sich wie eine uneinnehmbare Mauer entlang der Grenze erstreckte.

Erschöpft erreichte Pieps den Fuß der Felsen. Seine Beine taten ihm von den stundenlangen Märschen in der Nacht und am Vormittag wirklich weh. Er spürte die Anstrengung in jedem Zentimeter seines kleinen Körpers. Doch hier, in der prallen Sonne, auf den bereits stark aufgeheizten Steinen, wäre eine Pause alles andere als angenehm. Die ungeschützte, heiße Landschaft wirkte auf Pieps gefährlich und abweisend.

„Vielleicht hinter der riesigen Wand“, dachte Pieps und hob den Blick zu den beiden gewaltigen Felsmassen, die vor ihm aufragten.

Dazwischen führte ein schmaler, unscheinbarer Weg hindurch. Und tatsächlich: weiter hinten, wo der Weg in die Tiefe zwischen den Bergen führte, ließen ein paar Bäume die Stelle vielversprechend für eine Pause erscheinen.

Mit neuer Hoffnung marschierte Pieps auf den Durchgang zu. Durch die Felsspalte hindurch fand er den Zugang zu einem kleinen, versteckten Tal. Direkt am Eingang erstreckte sich eine wunderschöne Wiese und das helle Rauschen verriet sofort, woher die Kühle kam: Ein kleiner Wasserfall stürzte in einen kristallklaren See. Die kühle Brise des Wasserfalls spürte Pieps schon hier, an den Füßen des Felsspaltes.


Hier, dachte er, hier werde ich meine Pause machen.

Das ist der perfekte Ort, um die Beine abzukühlen, sich für die Nacht vorzubereiten und die dringend benötigten Kräfte für die Überquerung der Berge zu sammeln.

Mit einem tiefen Atemzug, der die kühle, feuchte Luft füllte, stemmte Pieps den Wanderstock in den Boden. Er war allein, aber nicht ängstlich. Er machte die ersten Schritte auf die Wiese zu. Das Rauschen des Wassers schien ihn willkommen zu heißen.

Doch dann, gerade als seine Zehen das weiche, feuchte Gras berührten, hielt Pieps inne. Sein Blick fiel auf den feinen Sandstrand neben dem See, direkt unterhalb des Wasserfalls. Dort, wo das Wasser den Sand geglättet hatte, sah er einen Abdruck.

Es war kein Vogelfuß, kein Käferpfad und auch keine Eidechsen-Spur. Es war ein winziger, klar definierter Fußabdruck – fast wie seiner, aber mit fünf gleichmäßigen Zehen und einem runden Ballen. Er war eindeutig frisch.

Pieps’ Neugier durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. Er war nicht der Erste, der dieses Tal gefunden hatte.

Erleichterung und Gefahr lagen hier dicht beieinander. Wer hatte diesen versteckten Ort sonst noch betreten?

Abenteuer von Maus Pieps

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