Grasmeer der Entscheidung

Der Morgen am Waldrand

Pieps erwachte genau dort, wo ihn die Müdigkeit am Abend zuvor überwältigt hatte. Die Sonne kitzelte seine Nase, und die Luft roch kühl und würzig nach frischem Tau. Seine Füße steckten noch in den Stiefeln, und sein prall gefüllter Rucksack hatte als perfektes Kopfkissen gedient.

„Was wohl Mama dazu gesagt hätte?“, dachte er lächelnd, während er sich streckte.

Doch als er den Kopf hob, blieb ihm fast der Atem stehen. Vor ihm breitete sich das Grasmeer aus – ein endloses Meer aus schimmernden, grünen Halmen, die sich im Wind wie sanfte Wellen wiegten. Hoch über ihm funkelte der Himmel in einem zarten, unschuldigen Morgenblau.

„Das ist es also“, flüsterte Pieps ehrfürchtig. „Das große Grasmeer.“

Er schnallte seinen Rucksack fest, nahm den Wanderstock in die Pfote und machte sich auf den Weg – mit den Worten der weisen Azaela im Ohr, die nun wichtiger klangen denn je:

„Geh langsam. Mach keine Geräusche. Und bleib immer aufmerksam.“

Begegnung mit Dunggrün

Lange wanderte Pieps durch das hohe, sich über ihm schließende Gras. Der Boden war weich und voller flüchtiger Spuren kleiner Tiere. Die Sonne wärmte ihm den Rücken, und der Wind sang leise in den Halmen.
Da hörte er plötzlich eine tiefe, freundliche Stimme, die ihn fast stolpern ließ: „Guten Morgen, kleiner Wanderer! Wohin des Weges?“
Vor ihm balancierte eine Mistkäferfamilie eine glänzende Erdkugel einen Grashalm hinauf. Herr Dunggrün, seine Frau und zwei kugelrunde Kinder arbeiteten harmonisch zusammen.
Pieps musste lachen. „Ich bin auf der Durchreise. Ich möchte das Grasmeer überqueren.“
Herr Dunggrün nickte verständnisvoll. „Dann pass gut auf dich auf. Hier draußen gibt es viele Augen, die nach einem schnellen Mittagssnack suchen.“
Sie lachten alle, doch in Herrn Dunggrüns Worten schwang ein ernster Unterton mit. Pieps blieb eine Weile, hörte den faszinierenden Erzählungen der Käferfamilie zu – von Stürmen, die wie Riesen brüllen, und der hohen Kunst, eine Kugel zu rollen, ohne sie in der Rinne zu verlieren. Schließlich trennten sich ihre Wege.

„Viel Glück, kleiner Freund! Und sei vorsichtig!“, rief Frau Dunggrün, bevor sie zwischen den Halmen verschwanden.
Pieps winkte ihnen nach. Wie freundlich die Fremden waren, dachte er und zog weiter in die Stille des Grases.

Der silberne Spiegel

Nach dem Regen der letzten Tage duftete alles intensiv und lebendig. Das Licht tanzte über die verbliebenen Tropfen, wodurch das gesamte Grasmeer in einem magischen Glitzern lag.

Bald entdeckte Pieps eine große Regenpfütze, die in der Sonne wie flüssiges Silber glänzte. Er beugte sich hinunter, betrachtete sein Spiegelbild und grinste. „Na, Pieps“, sagte er zu sich selbst, „du siehst ganz schön zerzaust aus.“

Er trank vorsichtig ein paar Tropfen, ruhte sich aus und lauschte dem leisen Rascheln des Windes. Es war friedlich, zu friedlich, so friedlich, dass er beinahe vergaß, wie ungeschützt er war. Hier draußen, allein im offenen Gras, war die Nacht kein guter Freund. Also stand er auf. Ein schneller Blick auf die Sonne, dann zog er weiter.

Der Schatten über dem Grasmeer

Ein leises, scharfes Pfeifen ließ ihn plötzlich erstarren. Ein dunkler, riesiger Schatten glitt lautlos über ihn hinweg – groß, schnell, bedrohlich.

Ein Vogel! Ein Raubvogel!

Pieps duckte sich instinktiv zwischen die nächsten Halme. Azaelas Stimme war nun ein scharfer Befehl in seinem Kopf:

    „Bleib in Bewegung. Lass dich nicht finden.“

Aber der Schatten blieb. Dann kam der Schrei – scharf, kurz und triumphierend – gefolgt von einem Flattern, das so gewaltig war, dass die Grashalme um ihn herum bebten.
Pieps’ Herz raste. Er wagte kaum zu atmen.

Dann hörte er ein leises Quieken. Jemand war gefangen! Die Angst der Beute schnürte ihm die Kehle zu.

Er zögerte nur einen Augenblick, aber dieser eine Augenblick war genug. Ein kleiner Funke des Mutes entfachte in seiner Brust. Mit erhobenem Wanderstock – der sich in seiner Hand wie ein Schwert anfühlte – sprang er aus seinem Versteck und schrie mit aller Kraft, die seine kleinen Lungen hergaben: „Lass sie los!“


Der riesige Vogel, völlig überrascht von dem winzigen, unerwarteten Angreifer, flatterte erschrocken zurück. Mit einem wütenden Kreischen erhob er sich in die Luft – und ließ seine Beute fallen.

Pieps rannte zu der Eidechse, die reglos dalag. Ihre Seite war aufgeschlitzt, aber sie atmete. Behutsam legte er ein breites Blatt auf die Wunde.

„Alles gut“, flüsterte er. „Ich helfe dir.“

Die Eidechse öffnete mühsam die Augen. „Danke… ich bin Elias Grasgrün. Wir müssen hier verschwinden, mein Haus ist nicht weit von hier.“


„Dann bringe ich dich dorthin“, sagte Pieps entschlossen.

Ein Zuhause im Grasmeer

Nach einer Weile erreichten sie ein kleines, gemütliches Haus, versteckt zwischen dicken Gräsern. Davor spielten drei kleine Eidechsen, und in der Tür stand Frau Elara Grasgrün.

„Elias!“ rief sie und lief ihm entgegen. „Du bist verletzt!“

„Nur ein Kratzer“, sagte Herr Grasgrün tapfer und deutete auf Pieps. „Dieser kleine Freund hat mir das Leben gerettet.“

Frau Grasgrün sah Pieps erstaunt an, dann lächelte sie warm. „Dann bist du unser Retter! Komm herein, du musst müde und hungrig sein.“

Drinnen war es hell und heimelig. Auf dem Tisch dampfte Kräutertee. Die drei Kinder – Lina, Laro und Lumi – setzten sich neugierig zu Pieps.

„Bist du ein echter Abenteurer?“ fragte Lumi mit großen Augen.

Pieps grinste. „Vielleicht ein halber. Ich wollte einfach nur sehen, wie groß die Welt wirklich ist.“

Sie lachten. Als Pieps von Azaela erzählte, leuchteten die Augen von Frau Grasgrün auf. „Azaela? Aber natürlich kennen wir sie! Wir wollten sie längst besuchen, doch wir waren wegen der Kinder krank.“

Draußen ging die Sonne unter, und Glühwürmchen begannen zu tanzen. Das Grasmeer wurde zu einem Meer aus goldenen Punkten.

„Bleib heute Nacht bei uns“, bat Herr Grasgrün. „Der Weg ist morgen auch noch da.“

Pieps nickte dankbar. Er fühlte sich zum ersten Mal seit seiner Abreise wieder geborgen.

Der Abend im Grasmeer
Später, als die kleinen Eidechsen schon in ihren Betten lagen, klopfte es leise an Pieps’ Tür. Lina lugte herein. „Pieps… erzählst du uns noch eine Geschichte?“

Pieps lächelte. „Nur eine kleine.“ Er setzte sich ans Bett und begann zu erzählen – von einer kleinen Maus, die von einer fernen dunklen Wald kam und eines Tages den Mut fand, die Welt zu sehen.

Als er den Raum verließ, schliefen sie alle.


Draußen saßen Herr und Frau Grasgrün auf der Bank. Der Wind war still, der Himmel überwältigend voller Sterne. Pieps setzte sich zu ihnen.

„Danke“, sagte Frau Grasgrün leise. „Dass du Elias gerettet hast.“

„Ich habe nur getan, was ich konnte“, flüsterte Pieps.

„Manchmal,“ sagte Herr Grasgrün, „sind die Kleinsten die Mutigsten.“

Pieps blickte in den Himmel. Er dachte an seine Mutter. Er spürte ein warmes Ziehen im Herzen – Heimweh und Glück zugleich.

„Es ist schön hier“, flüsterte er. „Fast so, als wäre ich zu Hause.“

Frau Grasgrün nickte. „Vielleicht ist jedes gute Herz ein Zuhause, Pieps. Und du trägst deins immer bei dir.“

Er lächelte müde. Der Mond glühte tief über dem Grasmeer.

Pieps legte sich hin, zog die Decke bis zur Nase und murmelte: „Gute Nacht, Mama… ich bin ganz nah bei dir.“

Er schlief ein – mit einem Lächeln, das von Träumen und Liebe erzählte…

… doch tief in der Nacht riss ihn ein Geräusch aus dem Schlaf. Es war kein Wind, kein Tier. Es war ein leises, schleifendes Kratzen direkt unter dem Haus, begleitet von einem flüsternden Zischen.
Pieps richtete sich auf, die Decke fiel zu Boden. Er hielt den Atem an und lauschte.
Ein Schatten huschte am Fenster vorbei – länger und viel dunkler als alles, was er bisher gesehen hatte. Das Zischen wurde lauter, fordernder. Es roch nach feuchter Erde und Gefahr.
Die Worte von Herr Dunggrün schossen ihm in den Kopf: „Hier draußen gibt es viele Augen, die nach einem schnellen Mittagssnack suchen.“
Pieps’ Herz hämmerte gegen seine Rippen. Das war etwas anderes. Etwas, das auf dem Boden kroch. Er schwang seine Beine aus dem Bett und griff nach seinem Wanderstock.

Abenteuer von Maus Pieps

Funken der Freude

Die verzweifelte Rettung und das Bündnis der Feinde Pieps lag regungslos im Gras. Der Schmerz hatte ihn verlassen, ersetzt durch eine eisige Stille. Die Welt schwand. Er blickte schwach auf Weiter lesen...

Zu nah

Die Ankunft der Sandläuferin Pieps, erschöpft von der Reise und den vielen neuen Eindrücken des Meeres, sank im Sand in einen tiefen Schlaf. Er hatte sich direkt am Rand des Weiter lesen...

Nur noch ein Schritt

Die Nacht war still und friedlich gewesen, hoch oben in den Ästen des alten Baumes. Pieps hatte sich dort ein kleines Nest aus Moos gebaut. Doch so richtig wohl fühlte Weiter lesen...

Der Pfad im Berg

Pieps wachte auf. Er war müde von dem gestrigen, langen Weg durch das Grasmeer, doch der neue Tag brachte eine leichte, hoffnungsvolle Wärme. Langsam stand er auf und bereitete sich Weiter lesen...

Hinter dem Gras

Die unerwartete Begegnung Doch Pieps’ Hoffnung, dass das Kratzen und Zischen aufgegeben hätte, verflog, als die Stille durchbrochen wurde. Es klopfte leise an seine Tür. „Schläfst du, Pieps?“, flüsterte eine Weiter lesen...

Grasmeer der Entscheidung

Der Morgen am Waldrand Pieps erwachte genau dort, wo ihn die Müdigkeit am Abend zuvor überwältigt hatte. Die Sonne kitzelte seine Nase, und die Luft roch kühl und würzig nach Weiter lesen...

Die Wächterin des Waldes

Nachdem die Höhle von dem unheimlichen Wesen besetzt schien, ging Pieps weiter, um einen Platz für die Nacht zu suchen. Es war schon dunkel. Die Wolken, die am Nachmittag aufgezogen Weiter lesen...

Der dunkle Wald

Ein kalter Tropfen glitt über Pieps’ Nase und kitzelte ihn wach. Blinzelnd öffnete er die Augen. Über ihm spannte sich das grüne Dach eines großen Blattes, das ihn in der Weiter lesen...

Laterne des Mutes

Vor langer, langer Zeit, in einem alten, tiefen Wald, wo die Bäume so dicht standen, dass das Sonnenlicht oft nur als goldener Staub auf den Boden fiel, lebte eine kleine Weiter lesen...

Die Wächterin des Waldes


Nachdem die Höhle von dem unheimlichen Wesen besetzt schien, ging Pieps weiter, um einen Platz für die Nacht zu suchen. Es war schon dunkel. Die Wolken, die am Nachmittag aufgezogen waren, hatten nicht nur Regen mitgebracht. Es begann zu pfeifen. Irgendwann fand Pieps eine geschützte Stelle – nicht ganz trocken, aber zumindest ein wenig vom Wind abgeschirmt. Es war ein guter Ort, um sich auszuruhen.

Er schlief sofort ein. Ein Wunder bei dem Wetter.

Das nächtliche Erwachen

Mitten in der Nacht schreckte er hoch. Der Wind hatte sich verstärkt. Man hörte nicht nur das Pfeifen, sondern auch, wie hier und dort kleine Äste brachen und krachend auf den Boden fielen. Das Wetter hatte sich in ein tropisches Unwetter verwandelt. Pieps saß inzwischen halb im Wasser. Er zitterte vor Kälte, aber auch ein wenig vor Angst. Dennoch versuchte er, die Augen noch zu schließen – bis zum Morgen war es ja noch weit.

Auf einmal hörte Pieps einen Ruf. Zwischen dem Krach und dem heulenden Lärm, den der Wald durch den Wind und den peitschenden Regen verursachte, war eine leise, aber dringliche Stimme zu hören. Und das bei diesem mörderischen Wetter, mitten in der Nacht!

Wer konnte das nur sein?

„…anderer… kleine…“


Die Rufe hörten sich immer näher an, kämpften sich durch das Getöse des Sturms. Nach ein paar Minuten waren sie fast direkt vor Pieps‘ Versteck zu hören.

„Kleiner Wanderer!“

Meinte er ihn? Pieps zitterte nicht mehr nur vor Kälte. Eine kalte Schauer lief ihm den Rücken hinunter, eine Angst, die viel tiefer saß als die Nässe. Er wagte kaum zu atmen.

Ooo, ich hab dich gefunden“, sagte die Stimme, nun ganz nah.

Da schob sich die unheimliche Gestalt vom Vorabend aus dem Gebüsch. Sie war groß und schlank. Ihre langen, gespaltenen Arme wirkten wie gezackte Äste, und ihr Kopf bewegte sich ruckartig.
Das war eine Gottesanbeterin.

Ihre Augen waren zwei pechschwarze, bewegungslose Kugeln, die Pieps unerbittlich anstarrten. Ihre langen Fangarme, die nun feucht glänzten, waren voller winziger, scharfer Stacheln und sahen aus, als könnten sie alles, was sie griffen, mühelos zerschneiden. In ihrer rechten Hand trug die Gottesanbeterin einen riesigen, zerrissenen Regenschirm. Er hatte inzwischen viele Löcher, doch trotz allem bot er ihr und dem Raum um sie herum ein wenig Schutz vor den schlimmsten Güssen.


Sie lud Pieps ein: „Komm mit mir in die Höhle. Du wirst dich hier noch erkälten.

Pieps war durchnässt. Nachkurze Überlegung – denn sein Herz klopfte immer noch wild vor Furcht – stimmte er jedoch zu.

Die Wächterin Azaela

Die Höhle war innen eine Überraschung. Sie war nicht nur trocken, sondern auch erstaunlich gemütlich. Ein kleines, warmes Feuer knisterte in einer windgeschützten Nische. Die Wände waren mit Bildern und Skizzen aus der ganzen Welt geschmückt. Es wirkte wie ein gemütliches Wohnzimmer.

Das riesige Wesen stellte sich als Azaela vor. Sie reichte Pieps ein warmes Getränk in einem ausgehöhlten Becher und erzählte ein wenig über sich.

Als junges Mädchen bin ich durch die Welt gewandert. Aber jetzt, wo ich alt geworden bin, suchte ich nach Ruhe und Gemütlichkeit. Die fand ich hier in diesem dunklen Wald.“ Sie blickte auf ihre stacheligen Arme und seufzte leise. „Die Welt ist wunderschön, aber auch gefährlich.


Sie erklärte: „Ich habe große Wasser überquert und unheimliche Städte voller Riesen auf zwei Beinen gesehen.“ Azaela erzählte Schauergeschichten von unberechenbaren Gefahren. Irgendwann, als sie schon fast alles gesehen hatte, kehrte sie in diesen alten Wald zurück, um in Ruhe vor sich hin zu leben. „Es kommen nur selten Fremde hierher. Nur ein paar Freunde kommen, um Geschichten von der Welt zu hören. Aber keiner hat so viel Mut oder Wissensdrang wie du, die kleine Maus, die vor mir sitzt.

Die Angst wich Pieps allmählich aus den Gliedern.

Azaela erzählte ihm von der Großen Ebene, die Pieps überqueren musste, und von der wahren Welt, die sich dahinter versteckte.

Vor dir liegt ein Grasmeer“, erklärte sie, ihre Stimme wurde tiefer. „Es gibt dort keine Bäume, keinen Schutz. Hinter jedem Grashalm versteckt sich eine Gefahr, die du nicht kommen siehst. Falken spähen von oben, bereit, im Sturzflug zuzuschlagen. Und am Boden warten Schlangen, geduldig und lautlos. Du darfst nicht unvorbereitet hineingehen.

Sie sah Pieps eindringlich an. „Du musst hindurch, kleiner Wanderer. Denn erst hinter diesem Grasmeer beginnt das wahre Abenteuer. Nur dort siehst du die Berge und Flüsse meiner Geschichten.

Ohne diesen Schmerz gäbe es keine Stärke“, sagte sie sanft. „Du wirst lernen, kleiner Pieps. So, wie ich es einst gelernt habe.“

Irgendwann, warm und müde, schlief Pieps ein, ganz froh, Azaela getroffen zu haben.

Der Abschied

Am nächsten Morgen wurde Pieps vom Duft warmer Erde geweckt. Die beiden quatschten noch lange. Pieps erfuhr vieles über die Welt jenseits des Waldes.

Es war Mittagszeit, das Wetter hatte sich beruhigt und die Sonne strahlte durch den Höhleneingang. Pieps wusste, er musste weiter. Er wollte den Waldrand noch heute erreichen. Azaela war ihm in diesen Stunden lieb geworden, der Abschied fiel ihm schwer.

Azaela lächelte schmal, doch ihre schwarzen Augen schienen feucht zu werden. Sie deutete auf einen Stapel alter, gut erhaltener Gegenstände.


Dies ist ein Abschiedsgeschenk für dich, kleiner Freund. Sie haben mich auf meinen größten Reisen beschützt. Ich habe sie als Erinnerung an die großen Abenteuer, die ich erleben durfte, aufbewahrt. Nun sollst du sie haben, und so soll es sein, als wäre ich mit dir auf der Reise.
Pieps sah die Geschenke: ein Paar kleine Wanderschuhe aus robustem Leder, die seine Pfoten schützen würden; ein kleiner, stabiler Rucksack aus getrocknetem Blatt, perfekt für seine Vorräte; und ein breiter Hut aus Schilf, der ihn vor Sonne und Regen bewahren sollte.

Pieps nahm die Sachen auf. Er sah jetzt schon ziemlich cool aus, bereit für die Gefahren der weiten Welt.

„Dort hinten, beim Brombeergebüsch, findest du Nahrung für den Rest des Tages“.

Pieps erhob sich. „Ich danke Euch“, flüsterte er. „Für die Rettung, die Warnung und für die Geschichten.“

Voll von Geschichten und guten Ratschlägen für den Weg, war es Zeit weiterzugehen.

Azaela nickte ihm zu. Mit diesen Worten erhob sich die alte Dame langsam und verließ den Raum mit Tränen in den Augen. Sie weinte im Verborgenen.

Pieps blieb lange still sitzen. Mit einem Kloß im Hals verließ auch er die Höhle. Es war inzwischen Mittag. Dieser Abschied schmerzte ihn tief, fast so, als hätte er seine eigene Familie ein zweites Mal zurückgelassen. Doch die Wärme der Höhle und die Geschichten Azaelas füllten ihn mit unerschütterlicher Zuversicht und Spannung auf die kommenden Tage.

„Die Welt ist groß“, murmelte er, „und ich bin klein. Aber ich gehe weiter.“

Als die Sonne schon schräg stand und langsam sank, raffte er sich auf. Die Lichtung war nicht weit – er konnte die helleren Ränder schon durch die Bäume schimmern sehen. Doch hinein wollte er erst morgen.

Am Rand des offenen Feldes suchte er sich ein Schlaflager: eine Mulde unter einer umgestürzten Wurzel, von Laub bedeckt. Dort kuschelte er sich in seine neue Ausrüstung. Er schloss die Augen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Die Geschichten, die Azaela ihm erzählt hatte – von den unheimlichen Städten und dem schrecklichen Gräsermeer – begannen nun erst richtig auf ihn zu wirken. Die Geräusche des Waldes schienen sich in die Stimmen der Gefahr zu verwandeln.

Noch im Halbschlaf flüsterte er: „Ich werde mich erinnern. Immer.“

Dann schlief er ein – und träumte von Augen, die wie Schatten funkelten und von Wegen, die ins Unbekannte führten.

Abenteuer von Maus Pieps

Funken der Freude

Die verzweifelte Rettung und das Bündnis der Feinde Pieps lag regungslos im Gras. Der Schmerz hatte ihn verlassen, ersetzt durch eine eisige Stille. Die Welt schwand. Er blickte schwach auf Weiter lesen...

Zu nah

Die Ankunft der Sandläuferin Pieps, erschöpft von der Reise und den vielen neuen Eindrücken des Meeres, sank im Sand in einen tiefen Schlaf. Er hatte sich direkt am Rand des Weiter lesen...

Nur noch ein Schritt

Die Nacht war still und friedlich gewesen, hoch oben in den Ästen des alten Baumes. Pieps hatte sich dort ein kleines Nest aus Moos gebaut. Doch so richtig wohl fühlte Weiter lesen...

Der Pfad im Berg

Pieps wachte auf. Er war müde von dem gestrigen, langen Weg durch das Grasmeer, doch der neue Tag brachte eine leichte, hoffnungsvolle Wärme. Langsam stand er auf und bereitete sich Weiter lesen...

Hinter dem Gras

Die unerwartete Begegnung Doch Pieps’ Hoffnung, dass das Kratzen und Zischen aufgegeben hätte, verflog, als die Stille durchbrochen wurde. Es klopfte leise an seine Tür. „Schläfst du, Pieps?“, flüsterte eine Weiter lesen...

Grasmeer der Entscheidung

Der Morgen am Waldrand Pieps erwachte genau dort, wo ihn die Müdigkeit am Abend zuvor überwältigt hatte. Die Sonne kitzelte seine Nase, und die Luft roch kühl und würzig nach Weiter lesen...

Die Wächterin des Waldes

Nachdem die Höhle von dem unheimlichen Wesen besetzt schien, ging Pieps weiter, um einen Platz für die Nacht zu suchen. Es war schon dunkel. Die Wolken, die am Nachmittag aufgezogen Weiter lesen...

Der dunkle Wald

Ein kalter Tropfen glitt über Pieps’ Nase und kitzelte ihn wach. Blinzelnd öffnete er die Augen. Über ihm spannte sich das grüne Dach eines großen Blattes, das ihn in der Weiter lesen...

Laterne des Mutes

Vor langer, langer Zeit, in einem alten, tiefen Wald, wo die Bäume so dicht standen, dass das Sonnenlicht oft nur als goldener Staub auf den Boden fiel, lebte eine kleine Weiter lesen...

Der dunkle Wald


Ein kalter Tropfen glitt über Pieps’ Nase und kitzelte ihn wach. Blinzelnd öffnete er die Augen. Über ihm spannte sich das grüne Dach eines großen Blattes, das ihn in der Nacht vor dem Regen geschützt hatte. Auf der Oberfläche funkelten noch kleine Wassertropfen, als wären hunderte Diamanten darüber gestreut.
Pieps streckte sich genüsslich. Zum ersten Mal hatte ihn kein Geschwisterchen angestupst oder aus dem Schlaf gedrängt. Niemand drängte ihn zur Seite, niemand zankte. Er konnte sich rollen, strecken, gähnen – so viel er wollte. Ein wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus.

Doch bald fiel ihm auf, dass etwas fehlte. Kein vertrautes Schnurren seiner Mutter, keine bekannten Gerüche aus der Küche, kein Rascheln von Moos im Nest. Stattdessen roch es nach feuchter Erde und nach Wald. Da erinnerte er sich: Er war unterwegs. Seine Reise hatte erst begonnen.

Mit einem Ruck schob er das Blattdach beiseite und kroch hinaus. Kühle Luft strich über sein Gesicht. In der Nähe plätscherte ein Bach. Pieps folgte dem Klang und tauchte seine Pfoten ins klare Wasser. Er spritzte sich über Nase und Augen, bis sie glänzten, und lachte leise, als die Tropfen an seinen Schnurrhaaren glitzerten. „So, jetzt bin ich wirklich wach.“


Er nahm seine kleine Osterglocken-Laterne, griff nach seinem Wanderstock und stapfte los.

Der Morgen war hell und freundlich. Sonnenstrahlen fielen durch die Bäume, die langen Schatten wirkten verspielt, nicht mehr unheimlich. Ein Eichhörnchen blieb kurz stehen und blickte neugierig, ein bunter Vogel legte den Kopf schief, als wolle er ihn begrüßen. Pieps aber senkte verlegen die Augen. Noch traute er sich nicht, mit den großen Waldbewohnern zu sprechen.

Bald stieg ihm ein süßer Duft in die Nase. Er folgte ihm – und entdeckte einen Heidelbeerstrauch, der sich wie ein grünes Netz an den Stamm eines Baumes schmiegte. Zwischen den Blättern hingen tiefblaue Früchte, schwer und saftig, so tief, dass Pieps sie mit den Pfoten erreichen konnte.

„Oh!“ rief er begeistert und packte eine Beere. Sie war fast so groß wie sein Kopf. Vorsichtig biss er hinein. Der Saft lief ihm über die Pfoten und schmeckte süß und frisch. Pieps lachte und stopfte sich gleich die nächste in den Mund. Schon bald war sein Bauch rund und zufrieden, und seine Schnurrhaare waren voller blauer Flecken. „Das war ein Festmahl“, murmelte er satt und glücklich, bevor er sich wieder auf den Weg machte.


Die Stunden vergingen. Je tiefer er wanderte, desto dichter wurde der Wald. Das Licht verlor an Kraft, die Schatten wurden länger, kühler, und Pieps fühlte sich wieder kleiner. Geräusche hallten unheimlich zwischen den Bäumen, jedes Knacken ließ ihn zusammenzucken.

„Nur ein Stückchen weiter“, sagte er tapfer, auch wenn seine Beine langsam schwer wurden. Die Sonne stand schon schräg, als er endlich einen Platz für die Nacht entdeckte: eine Höhle am Fuß eines alten, knorrigen Baumes. Dunkel, trocken, geschützt – das perfekte Versteck.

Erleichtert setzte er zum Laufen an. Doch dann erstarrte er.

Vor der Öffnung stand etwas.

Das Licht war hier am Boden schon fast verschwunden. In dem tiefen, schattigen Eingangsbereich der Höhle war nur eine hohe, unbestimmte Silhouette zu erkennen. Lang, schlank, mit zwei Gliedmaßen, die wie gezackte Äste in die Dunkelheit ragten. Das Ding rührte sich nicht, stand regungslos vor dem rettenden Versteck.


Pieps’ Herz schlug bis in die Ohrenspitzen. Es war viel größer als er, wirkte gefährlich und war in der Dämmerung kaum zu erkennen. Wer oder was es auch war – es hatte die Höhle besetzt.

Um Ärger zu vermeiden, drückte Pieps die Laterne fest an sich und wagte keinen Schritt näher. Er änderte die Richtung auf der Stelle. Die Höhle am knorrigen Baum war für diese Nacht gestrichen. Mit einem Gefühl von beklemmender Angst schlich er sich so leise wie möglich an dem unbekannten Wächter vorbei und suchte im finsterer werdenden Wald ein anderes, kleineres Versteck.

Laterne des Mutes

Vor langer, langer Zeit, in einem alten, tiefen Wald, wo die Bäume so dicht standen, dass das Sonnenlicht oft nur als goldener Staub auf den Boden fiel, lebte eine kleine Maus namens Pieps.

Der Wald war dunkel und oft feucht; er roch nach nassem Laub und Moos, aber er war Pieps Zuhause. Tief unter den knorrigen Wurzeln einer alten Eiche lag sein gemütliches Nest. Es war aus den weichsten Federn und feinsten Gräsern gebaut, ein Ort voller Wärme, Sicherheit und dem süßen Geruch von Familie.


Pieps war noch sehr jung. Mäuse leben oft nur etwa zwei Jahre, doch Pieps war erst vier Monde alt und hatte fast nichts von der weiten Welt gesehen. Er war ein neugieriger, kleiner Wuschel, der seine Mutter und seine vielen Geschwister über alles liebte. Trotzdem war Pieps anders. In seinem Herzen trug er einen großen, glänzenden Traum. Er träumte von Wiesen, die so grün waren, dass sie wehtaten in den Augen, und von Städten, die größer waren als sein ganzer Wald.

Manchmal, wenn die Sonne gerade unterging, schlich Pieps sich heimlich ein paar Mäuseschritte aus dem Nest. Dort draußen war aber alles so riesig und laut! Die Schatten der Bäume sahen aus wie große, grimmige Riesen, und das Knistern der Zweige klang wie ein warnendes Gemurmel. Jedes Mal überrollte Pieps eine kalte Welle der Angst. Sofort rannte er so schnell er konnte zurück in die Arme seiner Mutter. Er war noch unerfahren und wusste, dass die Welt da draußen voller Dinge war, die er erst noch lernen musste.

An diesem Morgen war jedoch alles anders. Die Sonne schickte einen besonders hellen, goldenen Strahl durch das Dickicht, der Pieps den Weg zu zeigen schien. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, dachte er mutig. Jetzt wusste er: Er war bereit.


Pieps packte seine Sachen: Ein paar getrocknete Beeren für den Weg und vor allem seine Laterne. Er suchte sich eine wunderschöne Osterglocke, auf deren blauem Blütenblatt noch ein einziger, dicker Tautropfen glitzerte. Der Sonnenstrahl fing sich im Tropfen, sodass die Blüte von innen heraus wie eine winzige, magische Lampe leuchtete.

Mit der leuchtenden Blume in seiner Pfote huschte Pieps zu seiner Mutter. „Mama“, flüsterte er und drückte seine kleine Nase an ihre. „Ich muss jetzt gehen. Der Ruf der weiten Welt ist so laut geworden, ich kann ihn nicht mehr ignorieren.“

Die Muttermaus sah ihn an, und zwei kleine Tränen kullerten ihr über die Backen. „Sei vorsichtig, mein Schatz“, sagte sie leise. Tief in ihrem Herzen schwoll jedoch ein großer Stolz an. Ihr kleiner, ängstlicher Pieps hatte den Mut gefunden!

Pieps umarmte seine Mutter fest. „Weine nicht, liebe Mama“, sagte er fest. „Ich komme bald zurück! Ich will doch nur wissen, was sich hinter diesem dunklen Wald befindet.“

Schritt ins Unbekannte
Mit dem Versprechen an seine Mutter und dem leuchtenden Tautropfen in der Hand kletterte Pieps auf die kleine Sandsteinmauer. Er nahm den ersten tiefen Atemzug der großen weiten Welt. Vor ihm lag der Schatten des Waldes, der nun so riesig und bedrohlich wirkte, dass sein kleines Herz wieder zuckte und einen Sprung machte.

Pieps setzte die Pfoten auf den kühlen, feuchten Waldboden. Er spürte sofort, wie die Angst von neuem an seinen kleinen Füßen zog. Der Wind, der eben noch wie ein sanftes Flüstern klang, schien jetzt durch die Blätter zu pfeifen. Überall, wo die Laterne nicht einleuchtet, schien sich etwas zu verbergen. Die Gesten der Bäume – all die Äste, die wie Finger in die Dunkelheit ragten – wurden länger und unheimlicher.

Klack!


Ein kleiner Kieselstein rutschte hinter ihm von der Mauer, und Pieps fuhr zusammen. War das ein Waldgeist, der ihm gefolgt war? Oder gar ein hungriger Räuber? Seine Atmung wurde flach und schnell. Die sichere Höhle seiner Mutter, das warme Moosnest, schien plötzlich Lichtjahre entfernt. „Du kannst das nicht tun!“, flüsterte eine kleine, ängstliche Stimme in seinem Kopf. „Dreh um, solange du noch kannst!“

Doch dann fiel sein Blick auf die leuchtende Glockenblume. Der Tautropfen strahlte warm und standhaft, ein kleiner, purpurner Lichtpunkt gegen die riesige Dunkelheit des Waldes. Es war, als würde der Tropfen ihm Mut in seine kleine Pfote fließen lassen. Pieps biss die Zähne zusammen. Er war vielleicht jung und unerfahren, aber er war auch die Maus mit einem Traum. Er hatte seiner Mutter versprochen, zurückzukommen – und zuvor musste er seinen Traum finden!

Die kleine Maus ignorierte das Grollen der Baumriesen. Auch das vermeintliche Kichern im Farn überhörte er. Er verließ das Bekannte und machte einen weiteren Schritt, dann noch einen. Die Angst war noch da, ja, aber sie war nicht mehr die Herrscherin. Sie war nur noch ein Schatten, den Pieps hinter sich herzog. Mit jedem Schritt fühlte er sich dadurch ein kleines bisschen stärker. Ein winziges bisschen mutiger. Er war nun nicht mehr nur Pieps aus dem Nest. Er war Pieps, der Wanderer, und vor ihm lag ein Weg, der versprach, ihm tausend neue Dinge zu zeigen.


Nach erste Nachmittag, wanderte er tiefer in das Dämmerlicht hinein, bis die Sandsteinmauer und das warme Licht seines Zuhauses nur noch ein kleiner Schimmer hinter den Bäumen waren. Jetzt war er ganz allein mit seiner Laterne und seinem Mut. Allein mit den Träumen, die er jetzt fängt zu richtig zu erleben.

Was würde ihn erwarten, wenn er morgen früh das erste Mal die Augen aufschlug und der Wald um ihn herum erwachte?

Das wusste nur noch der neue Morgen

Morgen beginnt das Abenteuer!

Vor ein paar Tagen ist mir ein Gedanke durch den Kopf geschossen, so ein richtiger Geistesblitz: Warum die Montag „Gemeinsam mit KI erzählt“-Aktion nicht in etwas Echtes verwandeln? Eine richtige Geschichtenerzählung!
Was ich schon alles auf czoczo.de von mir gebe, das soll jetzt einen festen Platz bekommen. Ein Abenteuerbuch für Groß und Klein.

Mein Plan?

Jeden Montag eine Fortsetzung. Ein neues Kapitel.
Ob ich die Zeit dafür finde? Tja, das ist die große Frage. Mittwoch starte ich in einen neuen Lebensabschnitt. Wir werden sehen, wie das wird. Aber ich habe es mir fest vorgenommen! Einmal vorgenommen, heißt: wird gemacht.

Inzwischen bastle ich schon am nächsten Teil vom Abenteuer von Pieps.


Und wer sie ist Pieps?

Sein Zuhause ist sicher, aber sein Traum ist zu groß.
​Jeder kennt die Angst vor dem Dunklen. Aber was passiert, wenn diese Angst die Tür zur größten Entdeckung versperrt?
​Morgen erzählen wir die Geschichte der jungen Maus Pieps, die den Mut findet, ihren gemütlichen Unterschlupf zu verlassen und in den tiefen, magischen Wald aufzubrechen. Mit nichts als einer leuchtenden Blumen-Laterne in der Pfote stellt sich Pieps seinen schlimmsten Schatten.
​Wird der kleine Pieps den Waldgeist besiegen? Und was liegt wirklich hinter den knorrigen Bäumen?
​➡️ Folge uns, um morgen früh dabei zu sein!
​Die „Abenteuer von Maus Pieps: Laterne des Mutes“ starten am Montag bei uns!
​Lies die ganze Geschichte und sieh die fantastischen Bilder zuerst auf unserem Blog: www.czoczo.de
​Wir brauchen deine Hilfe!
​Wenn dir die Idee von Pieps‘ mutiger Reise gefällt, dann teile diesen Beitrag mit allen, die Märchen und Abenteuer lieben!
​Wir hoffen sehr auf eure Kommentare auf www.czoczo.de! Erzählt uns: Wie wirkt die Geschichte auf euch? Welche Abenteuer wünscht ihr Pieps? Euer Feedback hilft uns, Pieps‘ Reise in den nächsten Wochen zu gestalten!

Der Esel von Marqab


Die Ankunft war ein stilles Wunder. Ein halbes Leben lang hatte er das Heilige Land durchkämmt, und doch war es die schlichte Heimkehr nach vielen Jahren, die seinen Geist am meisten rüttelte. Seit Monaten schon atmete Sir Kilian die Luft seiner Heimat, spürte das vertraute, kühle Leinen seiner Ehefrau auf der Haut und sah seine erwachsenen Kinder an, die er als Knirpse zurückgelassen hatte. Er lebte, er war unversehrt, und doch war er nicht heil. Der Körper war gezeichnet, die Schultern breit wie ein Eichenstamm, aber die Seele war eine offene Wunde, die nicht verheilte.
​Jede Nacht holten ihn die Schatten ein. Sie tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern: die leisen Schreie, das Klirren von Stahl, das Blut, das die Hände verfärbte. Der Papst hatte sie alle zu Mördern im Namen Gottes gemacht. Kilian hatte es gesehen, es getan – das Töten von Kriegern, Frauen und sogar Kindern. Der Auftrag war klar gewesen, die Taten schrecklich, und die Gnade Gottes fühlte sich an wie die Lüge eines Verräters. Er wachte auf, die Hände zitterten, der Schweiß klebte auf der Haut. Ein Mörder zu sein, das machte die Nächte kurz.
​Doch heute Nacht war es anders. Ein einziges, klares Bild verdrängte die blutigen Schatten. Es war die Erinnerung an eine Begegnung, die fast in der Fülle der Jahre untergegangen war. Sie waren auf einem Feldzug in der Nähe von Damaskus, unweit der Festung Marqab. Kilian, damals noch voller Eifer, saß an einem Lagerfeuer, als ein kleiner, hagerer Junge näherkam. Seine Augen waren wachsam, voller Vertrauen und doch mit einem Hauch von Furcht. Er trug einen Wasserschlauch.

​Der Junge hieß Jamal. Er sprach leise, fast wie ein Flüstern. Seine Mutter war kürzlich gestorben, sein Vater vor einem Jahr von einem christlichen Ritter getötet worden – einfach, weil er den Kreuzritter nicht verstanden hatte, weil er eine andere Sprache sprach. Jamal warf Kilian, der dieselbe Kleidung trug wie der Mörder seines Vaters, einen Blick zu, der frei war von jeglichem Hass. Er reichte ihm das Wasser und fragte nichts. Er schien zu verstehen, dass es eine Gnade war, ein Mensch zu sein. Ein Mensch, der einfach nur Wasser reichte.

​Heute Nacht, Jahre später, begriff Kilian die Weisheit, die in diesem Moment lag. Er hatte gespürt, wie das Leben auch ohne Hass und Furcht existieren konnte. In den Augen des kleinen Jamal hatte er das Menschliche gesehen, rein und unberührt von den Gräueln des Krieges. Jamal hatte ihm das Wasser gegeben, nicht aus Angst oder Ergebenheit, sondern aus reiner Menschlichkeit. Er hatte Kilian eine Geste des Friedens gezeigt, als sein eigenes Herz vom Krieg zerrissen war.
​Kilian schlug die Augen auf. Der Morgen war nah. Er atmete tief ein und spürte, wie eine Last von seiner Brust wich. Die Gräuel der Vergangenheit würden immer ein Teil von ihm sein, aber er musste sich nicht mehr von ihnen definieren lassen.

    ​Die wahre Gnade liegt nicht im Kampf oder in der Sünde, sondern in der schlichten Erkenntnis, dass das Leben auch nach dem Krieg weitergeht, in den Händen derer, die gelernt haben, aus Liebe zu geben, anstatt aus Wut zu nehmen.

​Von nun an würde sein Leben nicht mehr vom Zeichen des Schwertes bestimmt werden, sondern von den Erinnerungen an einen kleinen Jungen, der ihm in der Dunkelheit Wasser reichte. Er war nicht mehr nur ein Kreuzritter, er war wieder ein Mensch – der Mensch, der er immer sein wollte.

Der letzte Penny

Heute ist wieder Montag und damit Zeit für den nächsten Teil meiner neuen Blog-Serie „Gemeinsam mit KI erzählt“.
​Letzte Woche haben wir ja das erste Kapitel gestartet und ich freue mich, die Reise mit euch fortzusetzen. Wie geplant geht es heute mit einer neuen, spannenden Kurzgeschichte weiter.

Der letzte Penny

Der Herbstnebel hing wie ein feuchter, grauer Mantel über den Straßen Londons. Es war das Jahr 1888, eine Zeit des Umbruchs, in der das viktorianische Empire in seiner Blüte stand, doch die Schatten der Industrialisierung auf die Armenviertel fielen. Die schwachen Strahlen der Gaslaternen kämpften gegen die undurchdringliche Luft an, während die Gerüche von nassem Pferdemist, Kohle und feuchtem Kohl die Gassen erfüllten. Über den Schornsteinen kroch dicker Ruß in den Himmel und legte sich wie eine zweite Schicht über die Stadt.

​London war ein Ort extremer Gegensätze. In den prunkvollen Vierteln im Westen rollten die Kutschen der Reichen über die breiten Boulevards. Hinter glänzenden Fenstern tanzte das Licht von Kronleuchtern. Nur wenige Straßen weiter, in den engen, schmutzigen Gassen von Whitechapel, lebten Hunderte in ärmlichen Kammern, in denen der Regen durch die Dächer sickerte und der Hunger oft der einzige Begleiter war.


Hier, in dieser Welt aus Ruß und Elend, war Mr. Thomas Finch auf seinem Heimweg.
​Der alte Mann ging mit gebeugtem Rücken, seine Schritte waren langsam und müde. Sein Haar war schlohweiß, sein abgetragener Mantel dünn, doch er bewahrte eine stille Würde, die ihm selbst die Armut nicht nehmen konnte. Er war eine bekannte Gestalt in diesem Viertel, ein stummer Zeuge des täglichen Kampfes ums Überleben. Jeden Abend führte ihn sein Weg zu einer Straßenecke, wo ein kleiner Junge namens John saß. Mit schmutzigen, geschickten Händen flocht der Junge Körbe aus Weidenruten. Und jeden Abend ließ Mr. Finch einen Penny in den Korb fallen – ein kleiner Wert, der doch so viel bedeutete. Für John war es ein Zeichen der Hoffnung, für den alten Mann eine stille Erinnerung an seine eigene Menschlichkeit.

​Aber an diesem Abend war alles anders. Kurz vor Feierabend hatte sein Vorgesetzter ihn beiseitegenommen. „Es tut mir leid, Thomas“, hatte er gesagt, „aber Sie sind nicht mehr schnell genug. Wir brauchen jüngere Leute.“ Mit einem knappen Nicken war er entlassen worden, nach über 40 Jahren harter Arbeit. Die leeren Hände, die beschämende Erkenntnis, nicht mehr gebraucht zu werden, waren schwerer als jeder Sack, den er je geschleppt hatte. Nun tastete er in seiner Manteltasche, doch fand nur Leere. Es gab keinen Penny für den kleinen John, nicht einmal eine einzige, winzige Münze.
​Als er die Straßenecke erreichte, blickte John auf. Seine Augen, klar und unschuldig, trafen die müden Augen des alten Mannes.
„Guten Abend, Sir“, sagte der Junge.


Mr. Finch schluckte. „Heute habe ich nichts für dich, mein Junge. Nicht einen Penny“, murmelte er, so leise, als schämte er sich für seine Worte.
Für einen Moment herrschte eine Stille, die so tief war, dass man nur das eigene Herz schlagen hörte. Dann legte John seinen Korb beiseite und sagte:
„Das macht nichts, Sir. Sie haben mir oft geholfen. Heute sollten Sie es behalten. Vielleicht brauchen Sie es mehr als ich.“
​Tränen traten Mr. Finch in die Augen, und er legte seine zittrige Hand auf die Schulter des Jungen. Das warme Gewicht der kleinen Geste war mehr wert als jede Münze der Welt. Es war, als würde der dicke Nebel in seinem Inneren ein wenig leichter. Als er weiterging, schien die Straße weniger düster und die Gaslaternen warfen ein wärmeres, helleres Licht in die dunklen Gassen.

Fazit


​Ein einziger Penny ist wenig, doch die menschliche Güte, die er symbolisiert, ist unendlich. Die Begegnung des alten Mannes mit dem Jungen zeigt, dass wahrer Reichtum nicht in der Tasche, sondern im Herzen liegt. Auch in den dunkelsten Zeiten kann eine kleine Geste der Menschlichkeit den Weg erhellen.